Lichtenberg belebt den „Bürgerhaushalt“ neu. Andere Berliner Bezirke lassen sich nicht so sehr reinreden - zumal die zusätzliche Demokratie auch zusätzliche Arbeit für Ämter und Bezirksverordnete bedeutet.
Finanzpolitik ist oft wahnsinnig kompliziert, aber manchmal ganz einfach. Vor allem in Lichtenberg, wo vor acht Jahren zum ersten Mal die Bürger mitbestimmen konnten, wofür ihr Geld ausgegeben wird. Jetzt hat Bezirksbürgermeister Andreas Geisel (SPD) das von seiner Amtsvorgängerin Christina Emmrich (Linke) gestartete Projekt weiterentwickeln lassen und am Mittwoch vorgestellt – „weil über öffentliches Geld auch öffentlich diskutiert werden soll“.
Das Konzept wird im Rathaus viel Arbeit machen, aber ist für die Bürger umso komfortabler: Auf Papier oder über das neu gestaltete Internetportal www.buergerhaushalt-lichtenberg.de können Vorschläge eingereicht werden, wo etwas getan werden sollte: ein inhaltlicher Schwerpunkt beim nächsten Bücherkauf der Stadtteilbibliothek, ein abgesenkter Bordstein, mehr Sitzgelegenheiten vor einem Einkaufszentrum, aber nicht in der prallen Sonne.
Beispiele aus der Vergangenheit, die zeigen, dass Nachbarn oft die besten Experten sind. Und: Es darf sogar etwas kosten. 13 sogenannte Kiezfonds erhalten je 7000 Euro (statt bisher 5000). Mit diesem Geld können auch mal ein paar Eimer Farbe oder eine Turnmatte bezahlt werden, wenn Eltern ein Klassenzimmer renovieren wollen oder dem Judoverein Ausstattung fehlt, nennt Geisel als Beispiele. Oft geht es um Beträge, die zu klein sind für die Haushaltsberatungen der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) und wegen der in Berlin üblichen Doppelhaushalte dann auch erst nach etwa zwei Jahren ausgezahlt würden.
Stattdessen sortiert das Bezirksamt die Vorschläge vor, Bürger können online ihre Meinung kundtun und in „Voting-Wochen“ darüber abstimmen. Und mindestens im Vierteljahresrhythmus befasst sich eine von Bezirksverordneten und Verwaltungsleuten assistierte Bürgerjury mit den Anliegen. Da viele Vorschläge zusätzliches Geld kosten, lädt der Bürgermeister ausdrücklich zu Einsparvorschlägen an anderer Stelle ein: „Die Bürger sind nicht verpflichtet, aber wir freuen uns darüber.“
Nach Auskunft von Geisel sind vom 370 Millionen Euro großen Budget des Bezirks 340 Millionen gesetzlich gebunden. Die restlichen 30 Millionen seien – zumindest theoretisch – komplett beweglich. Während anderswo ein paar Dutzend Bezirksverordnete allein entscheiden, dürfen in Lichtenberg nun 260 000 Menschen reinreden. Übrigens auch, wenn sie Russisch oder Vietnamesisch sprechen, denn das Bezirksamt verteilt Flyer auch in den Sprachen der beiden größten Migrantengruppen. Nach Auskunft von Geisel trägt die gesamte BVV das Konzept mit, das sowohl ihr als auch dem Bezirksamt zusätzliche Arbeit bereitet. Geisel kommentiert die von ihm auf 65 000 Euro geschätzten Mehrkosten für die Verwaltung damit, dass Demokratie nun mal nicht umsonst zu haben sei.
Während Geisel sogar schon in Südkorea – wo nach seiner Auskunft jede Kommune einen Bürgerhaushalt haben muss – über sein Modell berichten durfte, ist anderen Berliner Bezirken die Puste ausgegangen: In CharlottenburgWilmersdorf stammt das aktuellste Dokument zum Thema aus dem Jahr 2009, in Friedrichshain-Kreuzberg und Treptow Köpenick ist das Projekt in den großen See der allgemeinen Bürgerbeteiligung eingeflossen, und eine berlinweite Internetseite zum Thema wurde zuletzt im Sommer 2007 aktualisiert.
Eine Ausnahme ist Marzahn-Hellersdorf, das – ebenfalls unter einem Linkspartei-Bürgermeister – ein Jahr nach Lichtenberg gestartet war und nach einer Unterbrechung jetzt auch wieder die Bürger mitbestimmen lässt. Allerdings gilt dort noch das Doppelhaushalts-Prinzip mit seinen langen Vorlaufzeiten. Und wer dort einen Vorschlag machen will, muss sich vorher registrieren. In Lichtenberg ist die Prozedur aus psychologisch-taktischen Erwägungen jetzt umgedreht worden: Erst wird der Wunsch abgefragt und danach die Kontaktdaten des Urhebers.
Nach Auskunft von Geisel stammt die Idee des Bürgerhaushalts aus dem brasilianischen Porto Alegre und hat sich in den vergangenen Jahren auch in mehr als 300 deutschen Städten verbreitet. Das Konzept ist so normal geworden, dass weitere Dienstreisen wie die nach Südkorea nicht in Sicht sind.