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Lichtenberger Mischung

TIP BerlinMagazin 02/06 |  16.01.2006

Lichtenberger Mischung
Lichtenberg ist nicht nur Fascho-Hochburg, Plattenbau-Landschaft, grau und spießig. Mit einer Künstlerkolonie am Nöldnerplatz, bürgerlichen Zuzüglern an der Rummelsburger Bucht und viel Geld von der EU wandelt sich jetzt der Bezirk
Es ist ein heißer Tag, als die linke Hausbesetzerszene zum Angriff auf Lichtenberg bläst. Mit Mollis und in Kampfmontur wollen etwa 500 Leute die Anhänger der "Nationalen Alternative", die das Haus in der Weitlingstraße 122 besetzt haben, vertreiben. Die haben sich mit Schusswaffen aus NVA-Beständen und mehreren hundert Litern Benzin verschanzt, die sie auf die Heranstürmenden gießen wollen. Nach einer mehrstündigen heftigen Straßenschlacht mit der Polizei beruhigt sich die Lage wieder. Einige Monate später räumen die Neonazis freiwillig das Haus. Das war 1990. Heute ist es in Lichtenberg ruhiger geworden. Neu hinzugezogen sind die Kreativen und Gutbürgerlichen, die den Bezirk mit neuen Ideen und EU-Geldern von seinem schlechten Image befreien wollen. Lichtenberg, zu dem nach der Bezirksreform 2000 auch Höhenschönhausen gehört, ist vielfältig: Weitläufige Gleisanlagen teilen den Bezirk mit knapp 260.000 Einwohnern in Kieze, die unterschiedlicher nicht sein können.

Auch wenn es auf den ersten Blick nicht so aussieht, das Problem mit rechten Kadern ist noch lange nicht gebannt. Laut eines Aktionsplans, der vom Zentrum für Demokratische Kultur herausgegeben wurde, verfügt die rechtsextreme Szene im Bezirk noch immer über eine funktionierende Infrastruktur, die aus Treffpunkten, Kneipen, Veranstaltungsorten und Geschäften besteht. Als besonderer "Angstraum" wird die Gegend um den Bahnhof Lichtenberg genannt. Kulturmanager Hans-Jörg Bahrs, der mit dem Projekt "Ladenleben" versucht, leer stehende Gewerberäume in Lichtenberg mit interessanten Geschäftsideen zu beleben, ist sich dieser Problematik bewusst. Dagegen angehen kann er nur im Einzelfall. Als auf dem von seinem Kulturmanagement organisierten "Gelben Fest", das die Weitlingstraße als Geschäftsort aufwerten sollte, T-Shirts mit der Aufschrift "Deutschland ist größer als die BRD" verkauft wurden, ließ er diese entfernen. Ansonsten sind ihm die Hände gebunden.

Wie die Bedrohung wahrgenommen wird, kommt sehr stark darauf an, in welchem Viertel man sich bewegt. Anya Hübschle, die für ihre Friedrichshainer Fingerpuppenwerkstatt im Viktoriakiez ein neues Quartier gefunden hat, hatte sich zunächst gefürchtet: "Für Leute aus der linken Szene war Lichtenberg lange die absolute No-go-Area." Gemeinsam mit über 30 anderen Künstlern arbeitet sie bei der BLO-Ateliergemeinschaft mit, die sich auf einem verwaisten Bahngelände am Nöldnerplatz angesiedelt hat. Eine große Brachfläche, wo zu DDR-Zeiten noch alte Dampfloks rangiert wurden und die inzwischen von einer wilden Wiese überwuchert ist, dient den neuen Nutzern, die ihrem Verein den Namen "LockKunst" gegeben haben, im Sommer als Treffpunkt.

Insgesamt 20 Millionen Euro haben die Europäische Union und das Land Berlin in den letzten zwei Jahren in die wirtschaftliche und soziale Belebung krisenbetroffener Bezirke gesteckt. Ein grünes Paradies ist so mitten im Viktoria-Kiez entstanden. Anya Hübschles anfängliche Befürchtungen haben sich zumindest nicht bestätigt, im Gegenteil: Auf dem Fußweg, der vom S-Bahnhof hinter dem LockKunst-Gelände in das Plattenbauviertel südlich der Frankfurter Allee führt, hört man neben Deutsch viel Vietnamesisch, Russisch oder Türkisch. Die Besitzer der MIR-Bäckerei in der Schulze-Boysen-Straße kommen aus Kurdistan und mussten ihren Kunden erst mal erklären, dass "Mir" auf Türkisch Teig heißt. Durch das Schaufenster blickt man auf die knallorange Fassade des Nachbarschaftszentrums Kiezspinne, das vor wenigen Wochen mit einem großen Fest eingeweiht wurde.

Der Trägerverein will dem anonymen Plattenbauviertel zu einem neuen Gemeinschaftsgefühl verhelfen. Zwischen Seniorenchören und Hilfsangeboten bei Behördengängen wirbt Joachim Francisco Joao für seine Salsa- und Trommelgruppen. Der Afrikaner ist seit fünf Jahren aktives Mitglied bei der Kiezspinne und wünscht sich, dass der Bezirk nicht nur negativ wahrgenommen wird: "Die Probleme sind doch überall die gleichen." Immerhin hat das Bezirksamt gerade alle Bewohner dazu aufgerufen, Vorschläge für einen Bürgerhaushalt zu machen. Über eine Fragebogenaktion, das Internet und auf Bürgerversammlungen kann man Vorschläge machen, was mit den 30 Millionen Euro, die Lichtenberg für soziale und kulturelle Projekte hat, geschehen soll.

Begibt man sich an die "Südküste" Lichtenbergs, glaubt man kaum, tatsächlich noch im gleichen Bezirk zu sein. Zwischen Hauptstraße und Rummelsburger Bucht ist in den letzten Jahren ein begehrter Wohnbezirk mit vielen Eigentumswohnungen entstanden. Nach Entwürfen des Architektenduos Beyer & Schubert entstehen jetzt direkt am Ufer eine Reihe großzügiger Atelierhäuser für wohlhabende Kulturschaffende, die aus den ehemaligen In-Bezirken Mitte und Kreuzberg, aber auch aus Wohlstandsgegenden wie Charlottenburg und Zehlendorf hierher ziehen. Die Kontakte zwischen Zuzüglern und Alteinwohnern sind noch sehr verhalten. "Mit dem Lichtenberger Konfliktpotenzial", gesteht Architekt Matthias Beyer, "haben wir wenig zu tun. Dafür sind wir hier zu isoliert." Trotzdem glaubt er daran, dass die Kaufkraft der Bewohner in Rummelsburg sich auch positiv auf andere Lichtenberger Viertel auswirken wird: "Das könnte doch ganz banal mit einem Feinkostladen oder einem guten Weinlokal anfangen." Christiane Bernhard und ihre Tochter Heike haben es in der Pfarrstraße mit

einem kleinen Laden plus Café-Ausschank versucht. Doch bis zahlungskräftige Kundschaft kommt, halten sie sich mit gebrauchten Büchern und Kleidung über Wasser ­ möglichst billig geht am besten.

Lichtenberger Hilfe für Menschen e.V. , Schulze-Boysen-Straße 35-37,

10365 Berlin, Tel./Fax: 55 49 85 68; E-Mail: lichtenbergerhilfe@gmx.de, www.blo-ateliers.de, www.kiezspinne.de, www.buergerhaushalt-lichtenberg.de

www.elterngegenrechts.de, www.beyer-schubert.de

Rebecca Menzel
TIP 02/06

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